San Francisco Syncope Rule (SFSR) zur Risikostratifizierung bei Synkope
1. Zielsetzung und klinischer Hintergrund
Synkope – definiert als plötzliches, kurzdauerndes Bewusstseins- und Spannungsverlustereignis mit spontaner Erholung – stellt eine häufige Fragestellung in der Notaufnahme dar. Die Herausforderung liegt darin, die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit benignem Verlauf von jenen mit einer potenziell lebensbedrohlichen Ursache (z. B. kardiale Arrhythmie, akute Myokardinfarkt, Lungenembolie, intrakranielle Blutung) zu differenzieren. Die SFSR wurde entwickelt, um in der Erstversorgung eine einfache, reproduzierbare Entscheidungshilfe zu bieten, welche Personen ein erhöhtes Risiko für kurzfistige schwere Ereignisse innerhalb von 7 Tagen nach Synkope aufweisen.
2. Einschluss- und Ausschlusskriterien
Die SFSR gilt für erwachsene Patientinnen und Patienten mit Synkope oder nahezu Synkope (Präkollaps), bei denen bei Präsentation in der Notaufnahme keine klare alternative Diagnose (z. B. Traumaverlust des Bewusstseins, neu aufgetretene neurologische Ausfallsymptome, Intoxikation) vorliegt.
Sie sollte nicht angewandt werden bei persistierenden neurologischen Defiziten, klarer epileptischer Genese oder bewusstseinsbeeinträchtigten Zuständen zum Zeitpunkt der Untersuchung.
3. Kriterien der SFSR (Merksatz “CHESS”)
Das Regelwerk umfasst fünf klinische Parameter, bei deren Vorliegen jeweils das Risiko eines schweren Ereignisses ansteigt:
- C = vorherige Herzinsuffizienz (kongestive Herzinsuffizienz)
- H = Hämatokrit < 30 %
- E = abnormes EKG (z. B. neue EKG-Veränderungen oder nicht-sinus Rhythmus)
- S = Dyspnoe in der Anamnese im Zusammenhang mit dem Synkopenereignis
- S = systolischer Blutdruck < 90 mmHg bei Erstmessung
Erfüllt eine Patientin bzw. ein Patient mindestens eines der fünf Kriterien, so ist sie bzw. er gemäß SFSR als nicht niedriges Risiko für ein schweres Ereignis einzustufen.
4. Definition der schweren Ereignisse
Als „schwere Ereignisse“ werden bezeichnet: Tod, Myokardinfarkt, relevante Arrhythmien, Lungenembolie, Schlaganfall oder Subarachnoidalblutung, bedeutende Blutung oder Rückkehr in die Notaufnahme mit anschliessender stationärer Aufnahme in Folge der Synkope.
5. Leistungsdaten – Sensitivität, Spezifität und Validierung
In der ursprünglichen Ableitungsstudie von James V. Quinn et al. wurde eine Sensitivität von rund 96 % und eine Spezifität von ca. 62 % angegeben, das negative prädiktive Niveau lag bei ca. 99,2 %.
In einer systematischen Übersichtsarbeit mit 12 Studien (n = 5316) betrug die gepoolte Sensitivität etwa 87 % (95 % CI 0,79–0,93) und die Spezifität etwa 52 % (95 % CI 0,43–0,62).
Externe Validierungsstudien zeigten jedoch eine deutlich variablere Performance (z. B. Sensitivitäten von ≈ 74 % bei einer Spezifität von ≈ 54 %).
6. Klinische Anwendung im Versorgungsprozess
- Nach Aufnahme einer Patientin bzw. eines Patienten mit Synkope ist die Erhebung der fünf SFSR-Kriterien Teil der Erstbewertung.
- Liegt kein Kriterium vor → Einstufung in die Gruppe „niedriges Risiko“; in geeigneten Fällen kann eine ambulantere Überwachung erwogen werden.
- Liegt mindestens ein Kriterium vor → Einstufung in die Gruppe „nicht niedriges Risiko“; dies erfordert erweiterte Diagnostik und meist stationäre Überwachung sowie ggf. kardiologische/neurologische Abklärung.
- Die SFSR übernimmt nicht die Entscheidung über Entlassung oder Aufnahme allein – sie ergänzt die klinische Einschätzung, Anamnese, körperliche Untersuchung, EKG, Labor- und ggf. Bildgebung.
7. Vorteile und Einschränkungen
Vorteile:
- Leicht anwendbares Instrument mit fünf klaren, direkt im Notaufnahme-Setting erfassbaren Kriterien.
- Gute Anfangs-Sensitivität, geeignet zur Identifikation von niedrigrisiko-Patientinnen/Patienten. Einschränkungen:
- Die nicht optimalen Spezifitätswerte führen zu einer hohen Rate von falsch-positiven Risikoeinstufungen.
- Interne und externe Validierungen zeigen erhebliche Heterogenität und nicht immer die in der Ableitungsstudie angegebenen Werte – z. B. reduzierte Sensitivität in realen Populationen.
- Die Regel fokussiert auf kurzfristige Ereignisse (z. B. 7 Tage), nicht auf langfristige Risiken oder Ursachenforschung.
- Die Interpretation eines „abnormalen EKG“ bleibt subjektiv und variiert je nach Erfahrungsgrad des Untersuchers.
- Sie ist nicht geeignet als alleiniges Entlassungskriterium – klinische Besonderheiten (z. B. bekannte schwere Herz- oder Gefäßerkrankung, schwer interpretierbare EKG-Befunde) bleiben kritisch.
8. Organisatorische Hinweise zur Implementierung
- Integration der SFSR-Kriterien in standardisierte Notaufnahme-Checklisten bei Synkope.
- Dokumentation der Kriterien-Erhebung (z. B. Herzinsuffizienz in der Anamnese, Hämotokritwert, EKG-Befund, systolischer Blutdruck, Dyspnoe).
- Schulung des Notaufnahme-Teams im korrekten Einsatz und den Limitationen der Regel.
- Monitoring der Übereinstimmung zwischen Risikoeinstufung und tatsächlichem Verlauf (Qualitätssicherung).
- In Fällen ohne Kriterium und stabiler klinischer Lage ist eine ambulante Weiterverfolgung in Kooperation mit der Kardiologie oder Neurologie möglich.
9. Schlussbemerkung
Die San Francisco Syncope Rule bietet eine hilfreiche, evidenzbasierte Entscheidungshilfe zur raschen Einschätzung des kurzfristigen Risikos von Patientinnen und Patienten mit Synkope in der Notaufnahme. Ihre Anwendung erlaubt eine strukturierte Risikostratifizierung, erleichtert die Entscheidungsfindung bezüglich weiterführender Diagnostik und Überwachung und fördert eine ressourceneffiziente Versorgung. Gleichwohl bleibt sie ein Hilfsmittel zur Ergänzung der umfassenden klinischen Beurteilung – insbesondere bei komplexen oder unklaren Fällen.