Anwendung des SYNTAX Score II bei Patienten mit komplexer koronarer Herzkrankheit (Mehrgefäß- und/oder Linksstamm-Beteiligung)
1. Zielsetzung und klinische Relevanz
Der SYNTAX Score II wurde entwickelt, um neben der rein anatomischen Bewertung der Koronaranatomie (wie beim ursprünglichen SYNTAX Score) auch klinische Patientenmerkmale zu integrieren. Damit ermöglicht er eine individualisierte Risikoprognose und unterstützt die Wahl der optimalen Reperfusionsstrategie – insbesondere die Entscheidung zwischen perkutaner Koronarintervention (PCI) und Koronararterien-Bypass-Operation (CABG).
2. Zusammensetzung und Variablen
Der SYNTAX Score II berücksichtigt sowohl angiographische/anatomische als auch klinische Parameter. Gemäss Literatur und offiziellen Quellen werden u. a. folgende Variablen einbezogen:
- Anatomischer Teil: Höhe des klassischen SYNTAX-Scores, Beteiligung des ungeschützten Linksstammes (unprotected left main disease, UPLMD)
- Klinische Variablen: Alter, Geschlecht, Kreatinin-Clearance (CrCl), linksventrikuläre Ejektionsfraktion (LVEF), Vorliegen peripherer Gefäßerkrankung (PVD), chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) Die Kombination dieser Parameter erlaubt eine Abschätzung der 4-Jahres-Sterblichkeit für PCI versus CABG.
3. Interpretation und klinische Anwendung
Der SYNTAX Score II wird typischerweise vom Herz-Team im Rahmen der Entscheidungsfindung verwendet. Er liefert für einen einzelnen Patienten jeweils zwei prognostische Werte – je nachdem, ob PCI oder CABG durchgeführt wird – und zeigt damit eine differenzierte Behandlungspräferenz:
- Liegt die prognostizierte Sterblichkeit bei CABG deutlich unter der bei PCI, so spricht dies für den chirurgischen Weg.
- Liegen die Werte nahe beieinander oder ist der PCI-Wert günstiger, kann eine interventionelle Strategie gerechtfertigt sein.
Beispielhafte Szenarien laut Veröffentlichung:
- Eine 60-jährige Patientin mit SYNTAX Score (anatomisch) 22, normaler CrCl, LVEF 30 %, ohne Linksstamm-Beteiligung → prognostizierte 4-Jahres-Sterblichkeit: PCI ~18,6 % vs CABG ~2,6 % → CABG empfohlen.
- Ein 73-jähriger Mann mit anatomischem SYNTAX Score 33, normaler CrCl, LVEF 60 %, mit Linksstamm und COPD → prognostizierte Mortalität: PCI ~7,4 % vs CABG ~24,8 % → PCI wird bevorzugt.
4. Vorteile und Limitationen
Vorteile:
- Integration von klinischen und anatomischen Faktoren erlaubt eine präzisere, individualisierte Risikoabschätzung.
- Hilft dem Herz-Team, zwischen PCI und CABG evidenzbasiert zu entscheiden.
Limitationen:
- Die Berechnung erfordert detaillierte angiographische sowie klinische Daten und ist ohne entsprechende Software nur schwer manuell handhabbar.
- Die Validierung erfolgte überwiegend bei Studienpopulationen – Übertragbarkeit auf alle Versorgungssettings erfordert weiterhin Evaluation.
- Nicht alle potenziell relevanten Patientenvariablen (z. B. Frailty, schwere Komorbiditäten außerhalb der Modeparameter) sind berücksichtigt.
5. Praktische Hinweise zur Implementierung
- Empfehlung: Bei Patienten mit Mehrgefäß-Koronarkrankheit und/oder ungeschütztem Linksstamm sollte frühzeitig der SYNTAX Score II inkl. anatomischer SYNTAX-Score berechnet werden.
- Die Score-Ergebnisse sollten in der interdisziplinären Herz-Team-Sitzung dokumentiert und in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.
- Eine standardisierte Dokumentation mit Ergebnissen und daraus abgeleiteter Strategie erleichtert Qualitätssicherung und Ergebnisanalyse.
- Es empfiehlt sich, die Score-Berechnung digital (Online-Rechner) durchzuführen, um Fehlerquellen durch manuelle Eingabe zu minimieren.
6. Schlussbemerkung
Der SYNTAX Score II repräsentiert einen maßgeblichen Fortschritt in der Behandlung komplexer koronaren Herzkrankheit durch Kombination anatomischer und klinischer Parameter. Er ergänzt die bisherige Entscheidungshilfe durch den reinen anatomischen SYNTAX-Score und unterstützt eine patientenzentrierte, evidenzbasierte Strategieplanung für PCI versus CABG. Dennoch bleibt die umfassende klinische Beurteilung und das interdisziplinäre Vorgehen im Herz-Team unentbehrlich – der Score ersetzt nicht die ärztliche Expertise, sondern ergänzt sie methodisch.