Anwendung des Wells‑Scores zur Lungenembolie (PE)
1. Zielsetzung und klinische Bedeutung
Der Wells-Score dient der standardisierten Abschätzung der Vortest-Wahrscheinlichkeit einer akuten Lungenembolie (PE) und bildet somit eine zentrale Grundlage im diagnostischen Algorithmus bei Verdacht auf PE. Die korrekte Einschätzung der Wahrscheinlichkeit beeinflusst wesentlich die Entscheidung zur Durchführung weiterer Diagnostik – etwa Messung des D-Dimers oder Bildgebung – und trägt zur Optimierung von Sensitivität, Spezifität und Ressourceneinsatz bei.
2. Komponenten und Punktezuteilung
Der Score besteht aus sieben klinischen Kriterien mit folgender Gewichtung:
- Klinische Zeichen einer tiefen Venenthrombose – 3,0 Punkte
- Alternative Diagnose weniger wahrscheinlich als PE – 3,0 Punkte
- Herzfrequenz > 100/min – 1,5 Punkte
- Immobilisation ≥ 3 Tage oder Operation in den letzten 4 Wochen – 1,5 Punkte
- Frühere TVT oder PE – 1,5 Punkte
- Hämoptysen – 1,0 Punkt
- Malignom (aktiv oder in den letzten 6 Monaten) – 1,0 Punkt
3. Wahrscheinlichkeitsklassifikation
Zwei im klinischen Alltag verbreitete Varianten existieren:
- Dreistufige Einteilung: „niedrig“ (≤ 1 Punkt), „moderat“ (2–6 Punkte), „hoch“ (≥ 7 Punkte)
- Zweistufige Einteilung: „PE unwahrscheinlich“ (≤ 4 Punkte) vs. „PE wahrscheinlich“ (> 4 Punkte) Die zweistufige Einteilung vereinfachte die Umsetzung in vielen Leitlinien und klinischen Routinen.
4. Integration in den Diagnostik-Algorithmus
- Bei Einstufung in die Kategorie „PE unwahrscheinlich“ wird üblicherweise eine hochsensitive D-Dimer-Bestimmung empfohlen. Ein negatives Ergebnis erlaubt in vielen Fällen den Ausschluss einer PE ohne weitere Bildgebung.
- Bei Einstufung in die Kategorie „PE wahrscheinlich“ wird in der Regel eine sofortige Bildgebung (z. B. CT-Pulmonalisangiographie) empfohlen. Die Kombination aus klinischer Wahrscheinlichkeitsabschätzung, Labor (D-Dimer) und in der Folge Bildgebung stellt eine evidenzbasierte Vorgehensweise dar.
5. Evidenz zur diagnostischen Genauigkeit
Meta-Analysen zeigen, dass der Wells-Score eine bessere diagnostische Trennschärfe aufweist als alternative Modelle wie der revidierte Geneva‑Score: Bei einer Übersichtsarbeit lag die berechnete Fläche unter der ROC-Kurve (AUC) für den Wells-Score bei 0,778 (95 % CI 0,740–0,818), für den Geneva-Score bei 0,693 (95 % CI 0,653–0,736). In weiteren Studien variierte die Sensitivität für den Wells-Score in typischen Settings etwa zwischen 63 % und 79 % mit einer Spezifität zwischen ca. 49 % und 90 %. Zudem zeigte sich in neueren Übersichten, dass die Kombination von Score + D-Dimer die Wahrscheinlichkeit, eine PE sicher auszuschliessen, deutlich verbessert.
6. Klinische Anwendung – Vorteile und Limitationen
Der Wells-Score ermöglicht eine strukturierte und reproduzierbare Einschätzung, erleichtert die Kommunikation im interdisziplinären Team und reduziert potenziell Über- und Unterdiagnostik. Zu berücksichtigen sind jedoch folgende Punkte:
- Ein Kriterium des Scores – „Alternative Diagnose weniger wahrscheinlich als PE“ – enthält eine subjektive Komponente und erfordert klinische Erfahrung.
- In speziellen Patientengruppen (z. B. hospitalisierte Patienten mit komplexer Komorbidität) kann die Diskriminationsfähigkeit geringer sein.
- Der Score ersetzt nicht die individuelle klinische Einschätzung und darf nicht als alleiniger Entscheidungsfaktor dienen.
- Bei bereits vorbekannten situationsbedingten Besonderheiten (z. B. Schwangerschaft, schwere Niereninsuffizienz, Kontraindikationen gegen Bildgebung) sind modifizierte Algorithmen oder alternative Scores zu erwägen.
7. Organisatorische und praktische Hinweise
Für eine optimale Implementierung im klinischen Alltag empfiehlt sich:
- Eine standardisierte Dokumentation der Checkliste mit allen Kriterien im Rahmen der Erstbeurteilung.
- Eine frühzeitige schriftliche Festhaltung der erreichten Punktzahl und der sich daraus ergebenden Wahrscheinlichkeit.
- Die Einbindung des Scores in klinische Wegleitungen und Entscheidungsalgorithmen (z. B. visuell oder elektronisch in der Patientenakte).
- Eine begleitende Schulung des ärztlichen Personals zur konsistenten Anwendung und Interpretation.
- Einen laufenden Qualitäts-Monitoring-Prozess zur Evaluierung der Übereinstimmung von vorab geschätzter Wahrscheinlichkeit, tatsächlicher Diagnose und Ressourceneinsatz (z. B. Anteil unnötiger CT-Untersuchungen).