ST-Senkung bei Myokardischämie und Differentialdiagnosen
ST-Senkung bei Myokardischämie und Differentialdiagnosen
Durch Ischämie verursachte ST-Strecken-Senkungen sind durch eine horizontale oder deszendierende ST-Strecke gekennzeichnet. In der Tat geben nordamerikanische und europäische Leitlinien explizit an, dass die ST-Strecke entweder deszendierend oder horizontal sein muss; andernfalls ist es unwahrscheinlich, dass eine Ischämie die Ursache der ST-Senkung ist. Eine horizontale ST-Senkung ist hierbei spezifischer als eine deszendierende Senkung. Siehe Abbildung 1.
Kriterien der ischämischen ST-Strecken-Senkung nach aktuellen Leitlinien (2017): Neue horizontale oder deszendierende ST-Strecken-Senkungen ≥ 0,5 mm in mindestens zwei anatomisch benachbarten Ableitungen.
Der Übergang von der ST-Strecke zur T-Welle ist bei Ischämie abrupter (normalerweise verläuft er fließend). Siehe Abbildung 2.
Ischämische ST-Strecken-Senkungen treten sowohl bei NSTE-ACS (NSTEMI und instabiler Angina pectoris) als auch bei STE-ACS (STEMI) auf. Sie unterscheiden sich dabei jedoch in ihrer Bedeutung. Bei NSTE-ACS stellen ST-Senkungen die primären ischämischen EKG-Veränderungen dar. ST-Senkungen bei NSTE-ACS werden häufig von T-Wellen-Inversionen (oder flachen T-Wellen) begleitet, der primäre EKG-Befund sind jedoch ST-Strecken-Senkungen selbst. Bei STE-ACS hingegen sind ST-Senkungen Sekunfärbefunde, wohingegen die Primärbefunde ST-Hebungen sind. Wie im vorherigen Artikel erläutert, entstehen ST-Strecken-Senkungen bei STE-ACS reziprok zu den ST-Strecken-Hebungen (Spiegelbilder).
ST-Strecken-Senkungen mit aszendierender ST-Strecke werden selten durch Ischämie verursacht, wobei es eine wichtige Ausnahme gibt. Das Auftreten von aszendierenden ST-Strecken-Senkungen mit prominenten T-Wellen in der Mehrzahl der Brustwandableitungen kann auf einen akuten Verschluss der LAD (Ramus interventricularis anterior [RIVA]) hinweisen. Dieser EKG-Befund wird als De-Winter-T-Welle bezeichnet.
Abbildung 3 enthält alle klinisch relevanten Differentialdiagnosen zu ischämischen EKG-Veränderungen und ihr Erscheinungsbild im EKG. Prägen Sie sich die Abbildung sorgfältig ein.
Differentialdiagnosen bei ST-Strecken-Senkungen
In Abbildung 3 finden Sie Beispiele.
Normale (physiologische) ST-Strecken-Senkungen
Normale (physiologische) ST-Strecken-Senkungen treten unter körperlicher Belastung auf. Diese ST-Senkungen sind aszendierend. Die Senkung beträgt im J 60-Punkt normalerweise <1 mm und normalisiert sich schnell nach Ende der Belastung. Einige Experten glauben, dass diese ST-Strecken-Senkungen eine gutartige Form von subendokardialer Ischämie darstellen. Weitere Informationen finden Sie unter “Belastungstests”.
Hyperventilation
Hyperventilation verursacht ST-Strecken-Senkungen, die denen bei körperlicher Belastung sehr ähnlich sind.
Linksventrikuläre Hypertrophie (LVH), rechtsventrikuläre Hypertrophie (RVH), Linksschenkelblock (LBBB), Rechtsschenkelblock (RBBB) und Präexzitation
Linksventrikuläre Hypertrophie (LVH), rechtsventrikuläre Hypertrophie (RVH), Linksschenkelblock (LSB), Rechtsschenkelblock (RSB) und Präexzitation (WPW-Syndrom) können alle zu ST-Strecken-Senkungen führen. Dies alles sind häufige Zustände, bei denen eine abweichende Depolarisation (QRS-Komplex) Repolarisationsstörungen (ST-T-Segment) verursacht. Zum Beispiel bedeutet ein Blockierung des linken Tawara-Schenkels (d.h. ein Linksschenkelblock), dass der linke Ventrikel nicht über das Purkinje-Netzwerk depolarisiert wird, sondern über die Ausbreitung der Erregung vom rechten Ventrikel. Die abweichende ventrikuläre Depolarisation führt zu einer abweichenden Repolarisation. Aus diesem Grund werden diese ST-T-Veränderungen als sekundäre ST-T-Veränderungen bezeichnet. Es ist sogar zu erwarten, dass die oben genannten Erkrankungen mit solchen sekundären ST-T-Veränderungen einhergehen. Das Fehlen solcher Veränderungen sollte einen Verdacht auf Ischämie entstehen lassen (wenn der Patient Symptome hat, die zu Ischämie passen). Das Gleiche gilt für künstliche Herzschrittmacher (praktisch alle Herzschrittmacher stimulieren die Ventrikel über eine Elektrode in der Spitze des rechten Ventrikels). Daher ist zu erwarten, dass bei einem Herzschrittmacher-Rhythmus sekundäre ST-T-Veränderungen zu beobachten sind.
Digoxin
Digitalis (Digoxin, Digitoxin) verursacht deszendierende ST-Senkungen mit einem charakteristischen „muldenartigen“ Erscheinungsbild.
Sympathische Stimulation und Hypokaliämie
Sympathische Stimulation und Hypokaliämie führen zu unspezifischen ST-Strecken-Veränderungen.
Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz kann zu ST-Strecken-Senkungen in den linksseitigen Ableitungen (V5, V6, I und aVL) führen. Diese Senkungen sind horizontal oder deszendierend.
Supraventrikuläre Tachykardie
Eine supraventrikuläre Tachykardie kann ebenfalls ST-Strecken-Senkungen verursachen. Diese Senkungen sind in der Regel horizontal oder aszendierend und neigen dazu, in den Ableitungen V4—V6 am deutlichsten zu sein. Diese ST-Senkungen sistieren schnell nach dem Ende der Tachykardie.
Ein neuartiges Herzsyndrom mit konkav-aszendierenden ST-Strecken-Senkungen
Im November 2018 berichteten Forscher aus Dänemark, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich über ein neuartiges Syndrom, das durch ST-Strecken-Senkungen in einer Vielzahl von Ableitungen und ein erhöhtes Risiko für plötzlichen Herztod gekennzeichnet ist. Die Forscher identifizierten fünf nicht verwandte Familien mit Merkmalen, die ein bisher nicht bekanntes, autosomal-dominant vererbtes Syndrom beschreiben (Abbildung 4). Das EKG ist durch tiefe und persistierende, konkave ST-Strecken-Senkungen in mehreren Extremitäten- und Brustwandableitungen gekennzeichnet. Die EKG-Veränderungen sind über die Zeit stabil und treten unter körperlicher Belastung deutlicher hervor. Betroffene Patienten fallen durch synkopale Episoden, ventrikuläre Tachykardie (einschließlich Torsade-de-Pointes), Kammerflimmern und plötzlichen Herztod auf.