Myokardischämie & -infarkt: Reaktionen, EKG-Veränderungen & Symptome
Myokardischämie: Reaktionen, EKG und Entwicklung von Infarkten
Wie alle anderen Zellen im menschlichen Körper verwenden Herzmuskelzellen ATP (Adenosintriphosphat) als primäre Energiequelle. ATP wird durch Metabolisierung von Kohlenhydraten (Glucose), Fetten oder Proteinen hergestellt, je nachdem, was verfügbar ist. ATP ist für alle zellulären Funktionen wie Kontraktion und Entspannung nötig. Eine Erhöhung der kardialen Arbeitsbelastung durch Erhöhung der Herzfrequenz und Kontraktilität (d.h. Kontraktionskraft) führt zu einem verstärkten Stoffwechsel. Herzzellen sind in hohem Maße in der Lage, das Angebot und die Nachfrage von ATP aneinander anzupassen; eine erhöhte kardiale Arbeitsbelastung führt zu einer erhöhten ATP-Produktion und umgekehrt. Wichtig ist, dass Herzmuskelzellen einen aeroben Metabolismus (Sauerstoff) benötigen, um ausreichende Mengen an ATP zu produzieren. Dies bedeutet, dass das Herz einen kontinuierlichen Blutfluss benötigt, um die Zellfunktion aufrechtzuerhalten.
Eine Myokardischämie tritt auf, wenn nicht genügend Sauerstoff zur Verfügung steht. Eine unzureichende Sauerstoffversorgung führt zu einer verminderten ATP-Produktion und einer anschließenden Störung des Zellstoffwechsels. Im Falle einer Ischämie schützen sich Herzmuskelzellen, indem sie auf einen anaeroben Metabolismus umstellen. Dies ist möglich, da kardiale Myozyten Glykogen (eine Speicherform von Glukose) speichern, das zur Herstellung von ATP in Abwesenheit von Sauerstoff verwendet werden kann. Leider ergibt Glykogen nur geringe Mengen an ATP und Glykogenvorräte sind begrenzt. Um den Sauerstoffbedarf zu senken, hören Herzmuskelzellen unter anaeroben Bedingungen auf, sich zu kontrahieren (d.h. während der Ischämie). Diese beiden Mechanismen – d.h. die Umstellung auf anaeroben Metabolismus und der Stopp der Kontraktionen – ermöglichen es dem Myokard, 20 bis 30 Minuten schwerer Ischämie zu überleben. Wenn die Myokardperfusion (Blutfluss) in der ischämischen Zone nicht vor Ablauf dieser Zeit wiederhergestellt wird, stirbt die Zelle.
Myokardischämie in der klinischen Praxis
In der klinischen Praxis tritt eine Myokardischämie in zahlreichen Situationen auf. Bei stabiler Angina pectoris bestehen atherosklerotische Plaques, die den koronaren Blutfluss einschränken und bei erhöhter Myokardbelastung (Bewegung) Symptome verursachen. Je schwerer die Stenose ist, desto ausgeprägter sind die Symptome. Eine stabile Angina pectoris wird mittels Belastungstest (Belastungs-EKG) diagnostiziert. Der Zweck des Belastungstests besteht darin, die Myokardbelastung (und damit den Sauerstoffbedarf) zu erhöhen, um eine Ischämie im Myokard hervorzurufen, das von atherosklerotischen Arterien versorgt wird. Dies führt auch zu typischen EKG-Veränderungen. Bei akuten Koronarsyndromen manifestieren sich jedoch Symptome und EKG-Veränderungen aufgrund des stark verminderten Koronararterienflusses in Ruhe, ausgelöst durch eine akute Atherothrombose.
Tabelle 1: Myokard- und EKG-Reaktion in verschiedenen Situationen von Ischämie oder erhöhter Arbeitsbelastung
ZUSTAND DER KORONARARTERIE | SITUATION | EFFEKT | EKG-REAKTION |
Normale Koronararterie (keine Atherosklerose) | In Ruhe | Die Sauerstoffversorgung ist ausreichend und es kann keine Ischämie auftreten. | Keine Veränderungen im Ruhe-EKG. |
Erhöhte myokardiale Arbeitsbelastung (körperliche Aktivität) | Sauerstoffversorgung steigt im Zuge eines erhöhten Sauerstoffverbrauchs unter Belastung. Somit sind Angebot und Nachfrage ausgeglichen und es kommt zu keiner Ischämie. (Einige Personen weisen unter Belastung eine gutartige Form von Ischämie im Subendokard auf; dies äußert sich in aszendierenden ST-Strecken-Senkungen unter Belastung, wobei die Person asymptomatisch ist). | Keine Veränderungen im Ruhe-EKG. Gutartige ST-Strecken-Senkungen im Belastungs-EKG haben aszendierende ST-Strecken. | |
Stabile koronare Herzkrankheit (atherosklerotische Plaque verursacht eine mindestens 70-prozentige Stenose) | In Ruhe | Keine Symptome. | Keine Änderungen bei ruhendem EKG. |
Erhöhte myokardiale Arbeitsbelastung (Bewegung) | Sauerstoffbedarf steigt im Zuge der Arbeitsbelastung, doch die Stenose (atherosklerotische Plaque) begrenzt die erforderliche Steigerung des Blutflusses, was zu einer Myokardischämie führt. Die Ischämie manifestiert sich als Brustschmerz. Diese Art von Ischämie (induziert durch erhöhte Arbeitsbelastung) befindet sich in der subendokardialen Muskelschicht. Sie ist reversibel und endet, sobald die Übung beendet wird. Nur in seltenen Fällen (wenn die Ischämie schwer und anhaltend ist) führt dies zu einem Troponinleck (d.h. Zelltod). | Ein Belastungs-EKG wird verwendet, um über den gleichen Mechanismus eine Ischämie zu provozieren. Dies kann ST-Strecken-Senkungen, eine verminderte T-Wellenamplitude und in seltenen Fällen ST-Strecken-Hebungen zum Vorschein bringen. | |
Stabile, aber hochgradige koronare Herzkrankheit (atherosklerotische Plaque, die eine mindestens 90-prozentige Stenose verursacht) | In Ruhe | Schwere Atherosklerose kann bereits in Ruhe eine Ischämie verursachen. Es handelt sich um eine schwerwiegende Erkrankung, die zwischen stabiler Atherosklerose und akutem Koronarsyndrom liegt. | Das Ruhe-EKG kann ST-Strecken-Veränderungen und/oder T-Wellen-Veränderungen zeigen. |
Plaqueruptur/-erosion mit darauf folgendem akutem Koronarsyndrom | Jedes Mal | Eine transmurale Ischämie verursacht eine ST-Strecken-Hebung. Eine subendokardiale Ischämie verursacht eine ST-Strecken-Senkung. Die Symptome sind ausgeprägt (insbesondere bei transmuraler Ischämie) und werden nicht durch Ruhe oder Nitroglycerin-Gabe gelindert. | Das Ruhe-EKG zeigt ST-Strecken-Veränderungen, T-Wellen-Veränderungen und gelegentlich QRS-Veränderungen |
Jeder Zustand der Koronararterie möglich | Vasospasmus | Ein Koronararterien-Vasospasmus kann zu einer vollständigen Obstruktion des Blutflusses führen. Er ist praktisch immer vorübergehend und endet, bevor sich ein Infarkt entwickelt. So erfolgt in fast allen Fällen eine vollständige Wiederherstellung der Zellfunktion, nachdem sich der Vasospasmus gelöst hat. | Das Ruhe-EKG zeigt normalerweise ST-Strecken-Hebungen, was darauf hinweist, dass die Ischämie transmural ist |
Zeit ist Muskel: 30 Minuten von der Myokardischämie bis zum Infarkt
Sobald eine Okklusion eingetreten ist, ist die Dauer der Ischämie entscheidend. Das von der verschlossenen Arterie versorgte Myokard wird sofort ischämisch und hört auf, zu kontrahieren. Wie oben erwähnt, gehen die Zellen in den anaeroben Stoffwechsel über, um die Lebensfähigkeit aufrechtzuerhalten. Dies ermöglicht der Zelle, eine Ischämie von 20 bis 30 Minuten zu überleben. Wenn der Koronararterienfluss innerhalb dieses Zeitraums wiederhergestellt wird, erholt sich das gesamte ischämische Myokard (nach einer kurzen Zeit kontraktiler Dysfunktion, engl. stunned myocard. Wenn der Koronararterienfluss nicht wiederhergestellt wird, beginnt der irreversible Infarkt: Die Nekrose breitet sich wie eine Wellenfront im Wasser aus, beginnend im Bereich der größten Ischämie, dem Subendokard. Von dort aus breitet sich der Infarkt auf das Epikard aus. Siehe Abbildung 2.
Die Zeit, die es dauert, bis alle ischämischen Bereiche irreversibel infarzieren, ist von großem Interesse. In der Literatur wird üblicherweise angegeben, dass der Infarkt innerhalb von 4 bis 6 Stunden abgeschlossen ist. Dies wird jedoch durch neuere Studien in Frage gestellt, die darauf hindeuten, dass der Infarkt zwischen 2 und 12 Stunden nach Einsetzen der Symptome abgeschlossen sein kann. Diese große Zeitspanne ist auf Faktoren zurückzuführen, die den natürlichen Verlauf beeinflussen. Ein solcher Faktor ist das Bestehen eines koronaren Kollateralkreislaufes.
Totale Okklusionen (die zu akutem STEMI führen) halten im Allgemeinen an, bis praktisch das gesamte ischämische Myokard infarziert ist (es sei denn, eine Reperfusionstherapie ist erfolgreich). Ein Drittel aller totalen Okklusionen eröffnet sich innerhalb von 12 bis 24 Stunden spontan (die Koronararterien verfügen über ein thrombolytisches System, das den Thrombus angreift, wenn auch zu spät). Es sollte jedoch Folgendes angemerkt werden: Auch wenn der Großteil des betroffenen Myokards zum Zeitpunkt der Rekanalisierung bereits nekrotisch ist, kann die Wiederherstellung des Blutflusses tatsächlich die kontraktile Funktion und die Prognose verbessern. Das liegt daran, dass es im betroffenen Bereich oder in dessen Nähe sog. “überwinterndes” (engl. hibernating) Myokard geben kann. Dieses überwinternde Myokard ist stark ischämisch, aber lebensfähig, und kann sich vollständig erholen, wenn der Blutfluss wiederhergestellt ist. Darüber hinaus erleichtert die Wiederherstellung des Blutflusses die Heilung des Infarktbereichs (was zu einer stärkeren Narbe führt) und verlangsamt das ventrikuläre Remodeling (was zu Herzinsuffizienz führt).
Abbildung 3 (oben) zeigt, wie sich der Infarkt vom Subendokard zum Epikard ausbreitet. Der Grund, warum der Infarkt im Subendokard beginnt, liegt einfach darin, dass dieses im Fall einer Ischämie die schlechtesten Voraussetzungen hat. Das Subendokard befindet sich zu weit von der Ventrikelhöhle entfernt, um Sauerstoff von dort zu nutzen. Darüber hinaus erhält es Blut, dem bereits ein Großteil seines Sauerstoffs entzogen wurde, da es einen Großteil der Ventrikelwand durchquert hat (der koronare Blutfluss verläuft wird vom Epikard zum Endokard (Abbildung 3).